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Schon während meiner Schulzeit war die englische Sprache eines meiner Hobbys gewesen. Nachdem dieses Interesse auch zu Beginn meines Informatik-Studiums nicht nachgelassen hatte, entschloss ich mich im dritten Semester, das Fach Anglistik als Nebenfach zu wählen. Durch die vielen Englischkurse und sprachlichen Aktivitäten an der Uni wurde mein Interesse an einem längeren Auslandsaufenthalt immer größer, und ich bewarb mich schließlich im Februar 1999 bei der AIESEC Austauschorganisation um einen Praktikumsplatz im englischsprachigen Ausland. Mehr als ein Jahr später, am 5. April 2000, begann mein Abenteuer als Austauschstudent in der kanadischen Stadt Calgary.
Mit Hilfe der AIESEC Lokalkomitees in Oldenburg und Calgary hatte sich ein Praktikumsplatz für mich gefunden: Für die Zeit von einem Jahr wurde bei der Firma Radss Technologies in Calgary ein Software-Entwickler gesucht, und wie sich herausstellte, passte die Stellenbeschreibung genau auf meine Fähigkeiten. Besser hätte es für mich also nicht kommen können, es blieb also nur noch die Frage: Wo zum Teufel liegt eigentlich Calgary?
Calgary liegt im mittleren Westen Kanadas in der Provinz Alberta und hat ca. eine Million Einwohner. Entstanden ist die Stadt aus einem 1875 errichteten Polizeiposten am Bow River. Als man im Jahre 1914 ca. 60 km südwestlich der Stadt Erdöl fand, entwickelte sich die Stadt in rasantem Tempo weiter. Heute ist Calgary ein wichtiges Zentrum der kanadischen petrochemischen Industrie: Vier Fünftel aller im Erdöl- und Erdgasgeschäft engagierten Firmen Kanadas haben ihren Sitz in Calgary. Im Jahre 1988 richtete die Stadt die 15. Olympischen Winterspiele aus. Das wichtigste alljährliche Ereignis der Stadt ist die Calgary Stampede, eine der größten Rodeo- und Cowboyshows der Welt, die stets Anfang Juli stattfindet.
Meine ersten Tage in Calgary Anfang April 2000 waren sehr angenehm. Am Flughafen wurde ich von zahlreichen Mitgliedern des AIESEC Lokalkomitees von Calgary herzlich empfangen, und weil mein Praktikum erst Mitte April begann, hatte ich einige Tage Zeit, um mich zu akklimatisieren, die erforderlichen Formalitäten zu klären und um meine zukünftigen Mitbewohner und die Stadt näher kennenzulernen. In dieser Zeit bildeten sich ebenfalls erste Freundschaften, von denen mir einige bis zum heutigen Tag erhalten geblieben sind.
Mit Beginn meines Praktikums kehrte dann die Regelmäßigkeit in mein Leben zurück: 40 Stunden pro Woche arbeiten, abends mit Freunden treffen, am Wochenende Sport treiben - vom Zeitplan her war alles sehr ähnlich zu meinem deutschen Leben. Von der Wahrnehmung her war alles jedoch ganz anders: Andere Gesichter, andere Sprache, anderes Essen, andere Stadt, andere Sportarten usw. Diese Liste könnte ewig so weitergehen. Was mich in der ersten Zeit wirklich sehr beschäftigte war vor allem die Sprache: Klar konnte ich schon einigermaßen gut Englisch, aber meine Kenntnisse beschränkten sich anfangs doch noch sehr auf die einfache Kommunikation mit Mitmenschen. Was mein professionelles Englisch anging, das ich im Beruf zur Kommunikation mit meinen Arbeitskollegen benötigte, hatte ich noch extremen Nachholbedarf, und es dauerte einige Wochen, bis ich mich auch auf der Arbeit sprachlich genauso wohl fühlte, wie zu Hause unter Freunden.
In den folgenden Monaten meines Praktikums bestimmten neben der Sprache und der Arbeit als Software-Entwickler zwei weitere Dinge mein Leben als Austauschstudent: Die vielen unterschiedlichen Nationalitäten der anderen Austauschstudenten und meiner Freunde und die Möglichkeit zum Reisen. Auch wenn ich durch die Arbeitszeit nur noch wenig Zeit für andere Aktivitäten hatte, begriff ich schnell, dass es bei diesem Austauschprogramm nicht allein darum ging, Berufserfahrung zu sammeln. Es ging vor allem auch darum, Menschen anderer Nationalitäten zu treffen und sie zu verstehen. Neben den Kanadiern lernte ich in dem Jahr viele Menschen aus aller Welt kennen, z. B. aus Argentinien, Equador, Mexico, Tschechien, Holland, Frankreich, Chile, Kolumbien, Ungarn, Indien, China und Brasilien. Auch diese Liste könnte ewig so weitergehen. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie faszinierend die entsprechenden multikulturellen Treffen waren, ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie so wenig Fernsehen geschaut, wie in dieser Zeit. :-)
Das Reisen war ein Thema für sich: In den insgesamt 15 Monaten, in denen ich nicht in Deutschland war, habe ich versucht, so viele Winkel in Nordamerika zu besuchen, wie es nur irgendwie ging. Bei nur 15 Werktagen Urlaub im Jahr war das gar nicht so einfach, aber es gab ja auch noch ein paar Feiertage. ;-) Alles begann mit einem Ausflug nach Ottawa zum Canada Day (Nationalfeiertag am 1. Juli), wobei wir die 3200 km in fast 40 Stunden zu viert in einem kleinen Auto hinter uns brachten; und nach zwei Partynächten und ca. 40 Stunden Aufenthalt in Ottawa mussten wir uns dann auch schon wieder auf den Heimweg machen, auf dem wir dann wenigstens noch die Niagara Fälle und Mount Rushmore besuchten.
Der zweite Trip im Oktober 2000 ging - ebenfalls per Auto und mit Besuch aus Deutschland - von Calgary aus über Lake Louise, Vancouver, Victoria, Seattle und Portland nach San Francisco. In den großen Städten planten wir jeweils zwei bis drei Tage Aufenthalt ein, um die Stadt und die nähere Umgebung erkunden zu können. Nachdem ich über Weihnachten und Silvester Verwandte und Freunde in New York City und dem Bundesstaat New York besucht hatte, bildete ein letzter ausgiebiger Urlaub nach Ende meines Praktikums den Abschluss meines Auslandsaufenthaltes: In insgesamt 7 Wochen ab Mitte April 2001 besuchte ich per Greyhound und anderer Busgesellschaften nacheinander Las Vegas, das Death Valley, den Grand Canyon, den Yosemite Nationalpark, Los Angeles mit Disneyland, San Diego und Tijuana, Monterrey, Mexico City, Acapulco, Puerto Escondido, Oaxaca, Villahermosa, Campeche, Merida, Tulum, Playa del Carmen, Cancun, Chichen Itza, New Orleans, Washington D.C., New York City und Poughkeepsie und trat dann am Ende noch eine 55-stündige Busheimreise quer über den Kontinent nach Calgary an.
Wieder angekommen in Calgary stand das Ende meines Auslandsaufenthaltes schon vor der Tür. Vier Tage blieben mir noch, bis ich alle Koffer gepackt und mich von allen Leuten verabschiedet haben musste. Beides stellte sich als nicht ganz so einfach heraus, aber nach einer unvergesslichen Abschlussparty und einer umfangreichen Verabschiedung am Flughafen schaffte ich am 20. Juni 2001 den Absprung zurück in die Heimat.
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